Freitag, 4. September 2015

Risse in der Familienblase

Hier ist es ruhig geworden.
Nicht, weil ich wegen Reisen in der Elternzeit oder im manchmal anstrengenden Elternalltag keine ruhige Minute mehr finde, um meine Gedanken mit euch zu teilen. Es ist eher eine Art Sprachlosigkeit. Ich bin sprachlos bei so viel Leid um uns herum. Habe kein Bedürfnis, über ein behütetes Familienleben zu schreiben. Ein Leben in unserer Schutzhülle, unserem kleinen Refugium, unserer privaten, idyllischen Familienblase.

Sicher, es passiert viel, auch in unserer 'Blase', was ich euch erzählen könnte.
Doch es ist so banal. Das Baby krabbelt, es zieht sich an den Möbeln hoch, wir erleben viel Schönes in unserer gemeinsamen Elternzeit und doch ist er immer da, der Gedanke, dass gerade unzählige Menschen nicht in einer geschützten Blase leben dürfen. Das, was für uns selbstverständlich ist oder gar banal, haben andere Familien noch nicht mal im Ansatz. Abends die Nachrichten zu sehen, tut weh. Mein Herz zieht sich zusammen.
Das Baby hat jetzt krabbeln gelernt? Nein. Das Baby hat heute seine Milch nicht bekommen. Das Baby hat keine frische Windel mehr, kein sauberes Wasser. Es hat seine große Schwester verloren und es hat vielleicht auch keine Eltern mehr. Nachts friert es. Aber es lebt, vielleicht - noch? Wie lange? Was kommt morgen? Wie können wir das Leben unserer Kinder schützen? So oft gelingt es nicht. Die Eltern müssen zusehen, wie sie das Leben ihrer Kinder nicht schützen können. Sie können ihr eigenes Leben nicht schützen. Sie sehen ihr Leben und das Leben ihrer Kinder unmittelbar bedroht. 

Und wir? Viele von uns sehen zu. Oder sehen weg. Wollen nicht, dass die eigene Blase Risse bekommt. Risse, durch die etwas von dem Leid der anderen hindurch dringen könnte.

Nein, ich will nicht über Stillkleidung schreiben, nicht über kindliche Entwicklung, nicht über Sport in und nach der Schwangerschaft und im Moment auch nicht über das, was wir auf unseren Reisen und Unternehmungen in der Elternzeit erleben.

Ich will euch erzählen, dass unsere Blase Risse bekommen hat. Dass wir traurig sind. Dass unsere Tochter nachfragt, wenn sie auf der Autofahrt aus dem Radio von toten Flüchtlingskindern hört, im Kühllastwagen erstickt. Und auch, dass wir wollen, dass all das zu uns durch dringt. Dass wir hinsehen wollen. Helfen wollen. Gerne viel mehr, als wir das aktuell tun.
Das Foto von dem kleinen Jungen, tot am Strand von Bodrum, war bei Weitem nicht das erste Foto dieser Art, das ich zu Gesicht bekam. Aber eines, das durch die Presse ging und sich mit Sicherheit in das soziale Gedächtnis unserer Gesellschaft einbrennen wird. Warum brauchen wir das? Ein Foto, das uns wachrüttelt und die schreckliche Realität vor Augen führt? Warum zögern wir so lange? Warum genügt es nicht, was wir in den Nachrichten zu hören bekommen? Warum müssen wir bildhaft sehen,  was wir eigentlich schon längst wissen? 

Wir stehen kurz vor einer längeren Reise nach Griechenland. Drei Wochen Lesbos. Schon länger gebucht, bereits bevor sich die Dramatik in diesem schrecklichen Ausmaß abzeichnete.
Urlaub auf einer Insel, die so viele Flüchtlinge irgendwie zu erreichen versuchen und so viele daran scheitern. Baden in den Gewässern, wo so viele Kinder, Frauen und Männer ihr Leben lassen.
Kann man das machen? Wollen wir das? Nein.
Fliegen wollen wir trotzdem. Denn wir wollen nicht wegsehen. Wir wollen unseren Kindern die Welt zeigen, wie sie ist. Und wir wollen helfen! Kochen für Menschen, die Hunger haben, unsere Kleidung mit den Menschen teilen, die sie am meisten benötigen. Wir haben zwei Schlafzimmer gebucht. Vielleicht dürfen wir eines an Menschen abgeben, die keinen Schlafplatz haben. Wasser teilen oder eine Dusche anbieten. Wir werden uns bei der Airline erkundigen, ob wir mehr Gepäck mitnehmen dürfen. Gepäck mit Spielsachen, Kleidung, Windeln, Hygieneartikeln und anderem, was gebraucht werden kann und in Griechenland einen neuen Besitzer findet.

Wer von euch hat Ideen, was wir noch tun können? Wie geht ihr mit der Situation um? Was erzählt ihr euren Kindern? Helft ihr aktiv?

Grundsätzlich ist es ratsam, sich vorab zu informieren, was an den unterschiedlichen Standorten oder Flüchtlingsunterkünften gebraucht werden kann und wo und zu welchen Zeiten diese Spenden abgegeben werden sollen. Wer aktiv helfen möchte und Kapazitäten hat, sich einzubringen, kann Informationen bei der jeweiligen Stadt erhalten. 

Bitte, lasst uns alle aus unserer Blase hinaus sehen. Lasst sie durchlässig werden für das Leid und Glück von anderen. Ein paar Risse bringen sie nicht zum Platzen - vielleicht wird sie auch einfach nur größer, wenn wir die Augen öffnen und in dem Maße helfen, wie es jedem von uns persönlich möglich ist!