Sonntag, 1. November 2015

Appell für eine Globale Herzerwärmung! Oder unser Reisebericht Lesbos 2015.

Lesvos ist eine wunderbare Insel. 'The lost paradise' titelte der Guardian im Zusammenhang mit der aktuellen Flüchtlingskrise. Und ja, es ist wirklich wie im Paradies. Und mitten im Paradies: unsägliches Leid, großes Elend, unmittelbare Not. Eltern mit ihren Kindern auf den Armen, am Ende ihrer Kräfte, unterwegs auf dem langen, mühsamen und gefährlichen Weg in ein besseres und vor allem sichereres Leben. Nicht alle schaffen diesen Weg. Bereits mehr als 3 300 Menschen sind vor der Insel im Mittelmeer ertrunken, auf der Überfahrt von der Türkei nach Lesvos. 3 300 Menschen, darunter viele Kinder, haben Europa nicht erreicht, haben ihren Wunsch nach einem menschenwürdigeren Leben mit dem Leben bezahlt. 
Im Netz habe ich heute morgen in diesem Zusammenhang folgende Kommentare gelesen: 


'Mal ganz ehrlich, mir geht das relativ am Arsch vorbei, die kommen aus der Türkei, also einem sicheren Land, niemand zwingt sie mit dem Boot übers Meer zu schippern, Eltern sind selbst Schuld wenn aus lauter Geldgier ihre Kinder im Meer ertrinken, diese Menschen wollen nur nach Deutschland um sich hier ein schönes Leben zu machen so wie Mutti es versprochen hat, hört endlich auf uns mit solchen Dramageschichten ein schlechtes Gewissen einreden zu wollen, zieht nicht mehr!' 

Beängstigend ist, dass man tatsächlich fast ausschließlich Kommentare dieser Art findet. Leute, die anderer Ansicht sind, behalten ihre Meinung für sich? Haben aufgegeben? 

Wir haben diese Menschen - und ja, auch Menschenmassen - auf Lesvos gesehen. Wir haben Menschen gesehen, Familien und Kinder, ältere Menschen und junge Männer und Frauen, kurz vor dem Dehydrieren, in der gleißenden Sonne erschöpft auf den Straßen liegend.  Menschenzüge, die sich zu Fuß den langen Weg über die Insel kämpften. Berge von Schwimmwesten und Schwimmflügeln, Kinderwesten mit Hello Kitty darauf. Die Küstenwache, wie sie wenige 100 Meter von der Insel entfernt Lebende und Tote aus Wasser holte. Fischer, die keine Fische mehr aus dem Wasser ziehen, sondern Menschen. Wir haben auch gesehen, dass diese Menschen und auch die Einheimischen alleine gelassen werden. Niemand dort erhält Hilfe. Es sind keine Hilfsorganisationen vor Ort. Die Griechen werden mit diesen Schwierigkeiten ebenso alleine gelassen wie die Menschen in der Türkei. Es sind Menschen wie du und ich, Einheimische und Touristen, die helfen, Wasser verteilen, Lebensmittel kaufen und an Bedürftige geben, die Flüchtlinge in den Mietwagen mitnehmen um den anstrengenden Fußmarsch zu verkürzen, einen Koffer mit Klamotten am Urlaubsort lassen, Brücken bauen, mit Händen und Füßen kommunizieren, Windeln und Babygläschen verteilen oder eine Tragehilfe an eine Flüchtlingsfamilie schenken, damit sie ihre Kinder auf dem kräftezehrenden Fußmarsch wenigstens bequemer tragen können. Eigentlich ist es kein Wunder, dass es vor Ort keine organisierte Hilfe gibt und die Menschen dort von Europa im Stich gelassen werden -  man muss nur einen Kommentar weiter nach unten scrollen um zu wissen, warum: 


'Warum? Die Türkei ist ein sicheres Land. Das Militär sollte die Flüchtlinge aus dem Meer fischen und in der Türkei an Land bringen. Wenn keiner Griechenland erreicht weil alle sofort in die Türkei gebracht werden dann kommt auch keiner mehr. Das ist die einzige Lösung des Problems.' 

Stimmt? Was geht uns das eigentlich an? Sollen die Menschen doch alle in der Türkei bleiben. Die Türkei kann ja dann schauen, was zu machen ist und wie sie mit der Situation umgehen. Hauptsache jedenfalls, die kommen nicht ALLE nach Deutschland. Eine Verlagerung des Problems hat bis jetzt das Problem noch immer behoben. Zumindest kurzfristig. Oder anders gesagt: Wir haben das 'Problem' nicht mehr im Blick(feld). 'Problem' behoben?  

Dass die Lösung nicht einfach ist, ist vermutlich unbestritten. Ich maße mir nicht an, einen Lösungsvorschlag parat zu haben. Doch wegschauen, blöde Kommentare posten, Hasstiraden schwingen, Angst vor dem Unbekannten haben und diese schüren, sich mit Halbwahrheiten begnügen oder einfach auf Durchzug stellen, das kann nicht die Lösung sein. 
Nicht nur die Politik entscheidet, wie wir mit der neuen Situation umgehen und ob Merkels 'Wir schaffen das' auf fruchtbaren Boden fällt. Jeder einzelne gestaltet unsere Gesellschaft mit und wir alle können etwas dafür tun, dass wir es (gemeinsam) schaffen. Und damit meine ich nicht nur Deutschland. 
Es ist nicht allzu lange her, da suchten viele Menschen aus Deutschland Zuflucht. Zuflucht vor einem Krieg, den die Deutschen selbst begonnen haben. Aus dieser Zeit sollten wir noch wissen, wie einfach Kopfwäsche sein kann und was aus verbaler Diffamierung entstehen kann. Und was es bedeutet, auf der Flucht zu sein. 


Werte vorleben statt sie lediglich zu vermitteln 


Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann würde ich es mit meiner Nachbarin Kathie halten und den Menschen eine globale Herzerwärmung wünschen. Und den Mut, unserem Herzen zu folgen, uns an traditionellen Werten wie Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft, Empathie und Menschlichkeit zu orientieren. Werte, die wir doch eigentlich täglich versuchen, unseren Kindern zu vermitteln. Wenn wir wollen, dass auch unsere Kinder in einer menschenwürdigen Welt leben, dann sollten wir endlich anfangen, diese Werte selbst vorzuleben! 


Zitate / Kommentare zu: Flüchtlingsdrama in der Ägäis. Lesbos fordert Fähren für Flüchtlinge aus der Türkei. In: Facebook unter ZDF heute. URL:https://www.facebook.com/ZDFheute/?fref=ts. 31.10.2015. 

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